Zielsetzung: Bis heute existieren unterschiedliche Herangehensweisen, Angstsymptome und -syndrome bei depressiven Störungen zu klassifizieren. Die "klassische" Psychiatrie hat lange Zeit Angstsymptome als zur Depression gehörig angesehen und ihnen keine weitere Eigenständigkeit zugebilligt, während es andererseits Überlegungen gibt, das gleichzeitige Auftreten von Angststörungen und Depressionen als eine eigenständige Störung "Cothymia" zu bezeichnen. DSM-IV und ICD-10 nehmen einen Mittelweg ein, indem sie - im Sinne der Komorbiditätskonzeption - Angststörung und Depression jeweils deskriptiv feststellen, ohne auf den Zusammenhang weiter einzugehen. Die vorgelegte Untersuchung will prüfen, welche diagnostischen und prognostischen Aspekte solche Sichtweisen stützen. Methoden: Eine Kohorte von 117 Patienten mit unipolarer Depression, die stationär behandelt wurden, wurde dahingehend unterteilt, ob aktuell eine komorbide Angststörung vorlag oder nicht. Die Patienten wurden während der aktuellen Episode beobachtet, wobei Angst, Depression, globales Funktionsniveau und Affektprofile prospektiv erfasst wurden. Mittels entsprechender Interviews sowie unter Zuhilfenahme von Vorbefunden wurde die Krankheitsgeschichte erhoben. Die Querschnittsdiagnostik beinhaltete Diagnostik gemäß DSM-IV sowie die Erfassung verschiedener Aspekte der Persönlichkeit, der Lebensqualität und anderer psychologischer und psychopathologischer Konstrukte, die für das Verständnis von Angststörungen und Depressionen relevant sind. Auch erfolgte ein Vergleich der klinisch gestellten Diagnosen mit Forschungsdiagnosen. Wesentliche Ergebnisse: 36 Patienten (30.8%) litten komorbide an einer Angststörung. Im kurzfristigen Episodenverlauf unterschieden sich Patienten mit und ohne Angststörungen hinsichtlich depressiver Symptomatik, globalem Funktionsniveau, Behandlungsdauer und Therapieformen nicht. Tendenziell litten aber depressive Patienten mit Angststörungen gehäuft an Substanzmissbrauch, sie wiesen mehr Suizidgedanken, mehr frühere Krankheitsepisoden und geringere Lebensqualität auf als "rein" depressive Patienten. Auch war in der Vorgeschichte ein Verlaufsmuster mit wiederholten Episoden mit Angstsyndromen zu erkennen, ohne dass dieses Muster als stabil anzusehen wäre. Die Persönlichkeit der Patienten mit Angst und Depression war dahingehend auffälliger, dass mehr Neurotizismus und Selbstunsicherheit festgestellt wurde. Klinisch wurden Angststörung (gemäß dem SKID-I Interview) in der Mehrzahl der Fälle nicht als eigene Diagnose gestellt. Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse stützen weder, dass Angststörungen sekundäre Erscheinungen von Depression sind, noch scheint eine eigene "Krankheitsentität Cothymia" (=Depression plus Angst) gerechtfertigt. Vielmehr lassen sich die Resultate dahingehend interpretieren, dass eine individuelle Prädisposition besteht, Angstsymptome und -syndrome zu entwickeln, so dass sich dann daraus ein quasi "cothymisches Verlaufsmuster" entwickelt, wenn depressive Episoden dazukommen. Dieses Verlaufsmuster scheint einige negative prognostische Aspekte aufzuweisen - mehr Substanzmissbrauch, größere Suizidalität, geringere Lebensqualität und mehr Krankheitsepisoden.
|